Hier ist er also, der Nabel der Welt.
In dreieinhalbtausend Metern Höhe fand Pachacamac, Lieblingssohn des Sonnengottes Inti, endlich den Ort, an dem er den Stab der Götter mit einem Schlag in die Erde treiben konnte: Hier gründete er die Stadt Cusco, das Zentrum des Inkareiches, das sich anschließend in alle vier Himmelsrichtungen ausbreitete. Für einige Jahrhunderte.

Dann kamen die Spanier mit Hunden, Pferden, Gewehren und ihrer Mission. Bedauerlicherweise wurde das alte Cusco bei dieser Gelegenheit nicht nur missioniert, sondern bis auf die Grundmauern zerstört. Die allerdings blieben erhalten. Weder Erdbeben noch Eroberer konnten ihnen je etwas anhaben.
Ebenso blieben die Traditionen erhalten, die sich bis heute in Cusco widerspiegeln. Sei es auf dem Markt, in der man neben Lebensmitteln auch allerlei Kräuter gegen böse Energien kaufen kann, oder eigens zusammengestellte Gaben für das Opfer an die Erdgöttin Pachamama. Sei es auf dem Friedhof, auf dem sich neben Blumen auch Miniaturausgaben von Teddybären, Nähmaschinen, Büchern, und kleine Inka-Cola oder Bier-Flaschen finden, die ausgiebig ueber die Vergangenheit der Verstorbenen berichten.

Ganz und gar von der alten Kultur umgeben ist man jedoch im Juni, zur Zeit der Wintersonnenwende. Zu dieser Zeit, wenn die Sonne der Erde am nächsten steht, sind sich Götter und Menschen besonders nahe. Für die Inka, die sich als direkte Abkömmlinge des Sonnengottes sahen, war es Zeit fuer das Wichtigste ihrer Feste. Inti Raymi, das Sonnenfest.
So ganz im Sinne der katholischen Kirche war das jedoch nicht, die das Fest verbot, kurz nach dem sie sich gemeinsam mit den Hunden, Pferden und Gewehren in Peru niedergelassen hatte
. 
Knapp fünf Jahrhunderte später: Menschenmassen strömen den Berg hinauf in Richtung der Festung Sacsayhuaman. Hier, wo sich seinerzeit die Inkas verschanzten, um gegen die Eroberer zu kämpfen, lebt die alte Zeremonie wieder auf. Schon Tage zuvor steht ganz Cusco Kopf: Nicht nur Schulklassen tanzen um Wette: Wer hat das schönste Kostüm, wer die beste Choreographie?


Andere schauen besorgt in den Himmel: Pünktlich zum Sonnenfest, mitten in der Trockenzeit des peruanischen Winters wird Regen angekündigt. Regen hat in diesen Tagen den unangenehmen Nebeneffekt, dass es praktisch kaum eine Möglichkeit gibt, die Kleidung zu trocknen. Ich habe in Cusco weder Restaurants, noch Hostels, noch ein Wohnhaus gefunden, das ueber eine Heizung verfügt hätte. Neben der (Originalton) miserablen Bildung und medizinischen Versorgung eines der vergleichsweise kleineren Probleme, mit dem die Menschen hier zu kämpfen haben. Obwohl Peru heute als eines der am schnellsten wachsenden Länder Lateinamerikas gilt. Eiskalt läuft es mir den Rücken hinunter, als mir ein Mann erzählte, dass sein Vater an die Dialyse musste, und sie irgendwann nicht mehr bezahlen konnte. Ich frag noch völlig naiv: „Und, was habt ihr gemacht?“ Die schlichte Antwort: „Er ist letztes Jahr gestorben.“

Dagegen sind die Unanehmlichkeiten, mit denen wir auf dem Weg nach Machu Picchu konfrontiert werden, praktisch gar nichts:
Der Bus, dessen Spurbreite, wenn überhaupt, nur ganz unwesentlich geringer ist als die Breite der Brücke, über die uns der Fahrer nach mehreren Anläufen balanciert. Gustavo, ein Argentinier, sieht meinen Blick und lacht schallend: „Na, das wäre in Deutschland nicht drin, oder?“ Die Haftpflichtversicherung möchte ich sehen!
Der Benzinwagen, der direkt vor uns versucht, einen ziemlich steilen Berg hinaufzukommen, und ganz augenscheinlich große Probleme mit seiner Handbremse hat: Mit jedem neuen Start rutscht er dichter an unsere Kühlerhaube heran. Zeit für ein Stoßgebet, das von Herzen kommt.
Oder schließlich der Weg nach Aguas Calientes – dem Ausgangspunkt für den Aufstieg nach Machu Picchu: Spontan wie immer hatte ich den Trip bei der erstbesten Reiseagentur gebucht. Und vielleicht hatte ich ja auch nicht richtig zugehört, doch bis heute habe ich die Stimme des Verkäufers im Ohr: Und von da aus fährt dann ein Zug in die Stadt. Nun, das stimmt ja so weit auch. Nicht nur einer, viele Züge fahren nach Aguas Calientes.

Allerdings ohne uns, denn wir legen die Strecke zu Fuss zurück, immer direkt an der Bahnstrecke entlang. Zwei Stunden lang geht es über das Gleisbett. Mal mit festem Boden darunter, mal über metertiefe Gräben. Manchmal über Brücken, die den Namen mehr oder weniger verdienen, mal über klapprige Gerüste, in die ich nicht das geringste Vertrauen habe. Bloß nicht nach unten sehen…
„Das ist Peru!!!“, jubelt Gustavo glücklich. Ich schaue sehnsüchtig den blau-gelben Zügen hinterher, die gelegentlich an uns vorbeirattern. Dort sitzt man jetzt vermutlich schön warm und trocken. Wir hingegen sind nass wie die Katzen, denn pünktlich zu Beginn der Wanderung beglückt uns die Trockenzeit mit einem Wolkenbruch, der sich gewaschen hat. Vorsichtig glibschen wir auf den rutschigen Holzbohlen vorwärts. Inzwischen ist es stockfinster. Die Dämmerung dauert hier nicht lange.
„Alles Teil des Abenteuers!!!“ Gustavo strahlt und knipst die Taschenlampe an. Wo nimmt der Mann nur diese gute Laune her? Ich hake mich bei ihm unter, und höre mir in den nächsten anderthalb Stunden lustige und weniger lustige Geschichten über sein Leben an, während wir langsam über die Gleise hangeln.
Kurz vor dem Ziel halten wir plötzlich an: Unserem Guide – einem einzigen, der die Verantwortung für rund vierzig Personen tragen muss – fällt auf, dass irgenjemand fehlt. Immer wieder zählt er durch. Nach einem kurzem Telefonat mit seinem Chef macht er sich dann auf, diesen Jemand zu suchen. Eine Frau, einen Mann? Niemand weiss das so genau. Nach rund zwanzig Minuten kehrt er zurueck: Er gehe davon aus, dass sich Wer-auch-immer einer anderen Gruppe angeschlossen habe. Bis heute frage ich mich manchmal, warum wir uns zwar wunderten, doch niemand von uns noch mal nachgefragt oder sich ernsthaft gesorgt hat. Ich selbst bin auch nicht auf die Idee gekommen.
Alle waren wir viel mehr damit beschäftigt, uns warm zu halten, oder mit unseren Gedanken schon beim nächsten Tag. Warum sollte ausgerechnet ich etwas tun, es sind doch noch so viele andere da? Das ist wohl das Phänomen, das man auch Diffusion der Verantwortung nennt – hier einmal hautnah erlebt.
Irgendwann zwischen Mitternacht und Morgengrauen klingelt der Wecker. La Madrugada nennt man diese Stunden hier. Von jetzt ab beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, denn wir wollen den Aufstieg noch vor dem Sonnenaufgang schaffen. Man könnte die kilometerlange Serpentinenstrecke zwar ganz bequem mit dem Bus zurücklegen, doch daran denke ich nur kurz. Ich sehe den Blick von Gustavo: Weichei!

Stattdessen machen wir uns auf und erklimmen den Berg auf authentischem Wege über unzählige unebene Inka-Stufen. Es heißt, es seien insgesamt eintausendsechshundertsechsundsechzig. Am Anfang läuft alles ganz entspannt und wie am Schnürchen. Doch als die Dämmerung anbricht, geht der Stress los: Ich laufe viel zu schnell, nehme zwei Stufen auf einmal, mache keine Pausen, trinke kein Wasser – und kriege promt die Quittung präsentiert. Die Luft ist hier eben immer noch ziemlich dünn.
Wie so einige andere verbringe ich nun mehr Zeit damit, nach Sauerstoff zu schnappen, als vorwärts zu kommen. Ich zähle: dreißig Stufen bis zur nächsten Pause, fünfzehn… Die komplett durchgeweichte Jeans in meinem Daypack wiegt geschätzte drei Zentner. Ich kann nicht mehr!

Wie eine junge Gazelle hüpft nun Gustavo lächelnd die Stufen an mir vorbei. „Hey, beeil dich mal ein bisschen.“ Na super! Mit besorgterer Mine fügt er jetzt hinzu: „Soll ich auf dich warten?“
Umgeben von einer atemberaubenden Kulisse ist genau jetzt die Zeit für die große Dramatik gekommen: „Nein, nein!“ winke ich ab, ganz sterbender Schwan. Ein Close-Up in Zeitlupe und etwas Filmmusik würden mir jetzt ausgesprochen gut gefallen: Lauf du nur, Gustavo, lauf. So schafft es wenigstens einer von uns. Und grüß mir…..

„Noch fünfzig Meter.“ Mit einem Schlag zerstört Gustavo die Violinenklänge. Ich beisse die Zähne zusammen. „Zwanzig, …. zehn.“ Was freue ich mich auf den Gipfel!
„Und?“ Nichts ist davon zu sehen, nur Bäume und noch mehr Stufen. „Sag mal, sagtest du nicht etwas von wir seien gleich da?“ „Sind wir ja auch,“ flötet Gustavo. Er grinst breit: „Noch mal fünfzig!“ Ich hatte ja ganz vergessen, dass dieser Berufsoptimist auch noch erfolgreicher Marathonläufer war. „Ich hasse dich!“ „Ich wei-heiss…,,“ ruft er die Stufen herunter, „aber wenigstens gibst du nicht auf.“

Danke, Gustavo! Schnaufend und völlig fertig aber überglücklich habe ich dank dir dann doch noch die Chance auf diesen Anblick:





Jetzt brauche ich keine Filmmusik mehr. Das ist Filmmusik.
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